Die Augen von 160 Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufe Q1 des Kaiserin-Friedrich-Gymnasiums hingen wie gebannt an den Lippen von Arthur Landwehr, der die Bühne der Aula mit bedächtigen Schritten durchmaß und im Gehen seine Gedanken zu den „Zerrissenen Staaten von Amerika“ vor ihnen ausbreitete. Lange Jahre hatte er als ARD Hörfunkkorrespondent in den Vereinigten Staaten, machte sich noch in der Zeit seiner Berufstätigkeit Notizen, die jetzt, im Übergang zwischen Berufstätigkeit und Ruhestand, in das im Jahr 2024 erschienene Buch „Die zerrissenen Staaten von Amerika“ mündeten. In der dritten Auflage kam schließlich noch das Prädikat „Spiegel-Bestseller“ hinzu.
Natürlich musste auch über den Wahlkampf zwischen Kamala Harris und Donald Trump gesprochen werden. Bloße Verdammungsurteile über den Kandidaten der Republikaner jedenfalls seien unzureichend, um die Situation zu verstehen. Man müsse kein Freund von Donald Trump sein, um bezeichnenderweise mit Barack Obama zu dem Urteil zu kommen, Trump sei nicht die Ursache der Probleme, sondern deren Symptom.
Zu beklagen sei jedenfalls eine gesellschaftliche Spaltung, die sich nicht mehr primär aus Sachthemen entwickle, sondern mit Identitäten verbunden sei. Das sei eine überaus problematische Entwicklung, weil Sachthemen Kompromisse erlaubten, Identitätsfragen dagegen seien dazu geeignet, nicht mehr die Meinung, sondern den personalen Kern, das grundlegende Selbstverständnis, ja die „Ehre“ in den Mittelpunkt zu stellen und darüber könne es keinen Kompromiss geben. Diese Fragen trennten ganz scharf verschiedene gesellschaftliche Milieus, sie seien geeignet, mitunter Ehen oder ganze Familien zerbrechen zu lassen und seien in hohem Maße korreliert mit dem Unterschied zwischen Stadt und Land.
Da helfe es auch nicht, die ländlichen Trump-Wähler als Ewiggestrige, Rechtsextreme und Hinterwäldler zu titulieren und abzutun. Vielmehr müsse zur Kenntnis genommen werden, dass Menschen aus diesen Milieus echte Probleme hätten, gleichzeitig aber den Eindruck nicht loswürden, als interessierten die meinungsprägenden Städter diese ihre Probleme in keiner Weise. Und weil Politik und Medien diese städtischen Urteile weitgehend teilten, fühlten sich die ländlichen Gruppen gar nicht mehr beachtet und gehört.
Herr Landwehr berichtete, dass er sich in seiner Korrespondentenzeit die Mühe immer gemacht habe, beispielsweise zu den republikanischen Wahlveranstaltungen hinzugehen und mit den Trumpisten zu sprechen, um herauszufinden, wie diese wirklich dächten. Herr Landwehr verwendete ein dramatisches Beispiel, um zu zeigen, wie grundlegend der Dissens mittlerweile sei. Unabhängig von der Frage, ob Trump seine Leute wirklich dazu aufgestachelt habe, am 6. Juni 2022 das Kapitol zu stürmen, sei ja in liberal fortschrittlichen Kreisen diesseits und jenseits des Atlantik die Meinung vorherrschend, die Belagerer des Kapitols hätten einen Putsch geplant und die Demokratie gefährdet. Die Anhänger Trumps wiederum seien der festen Meinung, sie hätten versucht, die amerikanische Demokratie gegen das demokratiegefährdende Gebaren von politischer Elite und ihren institutionellen Handlangern zu retten. Hier würden also über das gleiche Ereignis völlig unterschiedliche Geschichten erzählt und diese unterschiedliche Wahrnehmung könne man an vielen Beispielen wiederfinden: an der Haltung zu Waffen, zur geschlechtlichen Identität, und am Ende auch zum Kern des gesamtamerikanischen Selbstverständnisses: ob man sich immer schon und auch noch heute als demokratisches Land of the free verstehe oder als Gemeinwesen, in dessen Gründungsakten Kolonialismus und Rassismus fest verankert gewesen seien und dessen üble Defizite bis in die Moderne weiterwirkten.
Konsequent bemühten sich die Wahlkampfstrategen der jeweiligen Lager auch nicht mehr darum, jemanden von der anderen Seite zu überzeugen. Bestenfalls gehe es um die sehr dünne Schicht von Unentschiedenen und vor allem darum, die eigenen Anhänger an die Wahlurne zu bringen.
Herr Landwehr konnte im Hinblick auf die nähere Zukunft keine Entwarnung geben: Die gesellschaftliche Spaltung werde sich absehbar nicht einebnen lassen, sondern eher noch verstärken. Eine gewisse Hoffnung knüpfte er eher an eine neue Politikergeneration, die es schaffe, jemanden hervorzubringen, der oder die den Menschen den Eindruck gebe, dass man mit ihnen vertrauensvoll in die Zukunft gehen könne. Diese Person sehe er in den USA momentan genauso wenig wie in Deutschland, aber so wie es Kennedy und Obama gegeben habe, könne sich im Jahr 2028 eventuell eine solche Person herauskristallisieren.
Die Schülerinnen und Schüler nutzten sehr rege die Möglichkeit, einen solchen Kenner der amerikanischen Verhältnisse zu befragen.
Kurzbiografie:
Arthur Landwehr, geboren 1958, war von 1999 bis 2006 und von 2018 bis 2022 ARD-Hörfunk-Korrespondent in Washington, D.C. Von 2006 bis 2018 war er Hörfunk-Chefredakteur des Südwestrundfunks. Während seiner USA-Aufenthalte hat er die gesellschaftliche Entwicklung der USA in den Amtszeiten von Clinton, Bush, Trump und Biden intensiv journalistisch begleitet. Für seine Berichterstattung wurde er mit dem RIAS-Radiopreis ausgezeichnet. Sein Buch „Die zerrissenen Staaten von Amerika. Alte Mythen und neue Werte – ein Land kämpft um seine Identität“ ist Spiegel-Bestseller. Zudem ist Landwehr Honorarprofessor an der Hochschule RheinMain in Wiesbaden.
Porträtphoto von Herrn Landwehr: Frank Lange